6.2.2022

Warum der ÖV das Auto nie ersetzen kann

Stadt und Land
Der VW Käfer war für unsere Grosseltern der Traum der automobilen Mobilität.

Eigentlich leben wir in einer genialen Welt. Wir haben heute Transportmittel, welche uns fast von überall fast überall hin bringen können. Das war nicht immer so. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert konnten sich unsere Vorfahren nur mit Pferdestärken oder mit ihren eigenen Füssen vorwärtsbewegen. Das erste Dampfschiff auf dem Thunersee erschien 1835. Erst 1860 erreichte die erste Dampflokomotive die Stadt Thun. Und noch länger dauerte es, bis die ersten Busse auch die Dörfer in der Region Thun erschlossen.

Noch meine Eltern sind zumindest teilweise ohne Autos aufgewachsen. Meine Grosseltern väterlicherseits konnten sich erst recht spät ein Auto leisten. Meine Grosseltern mütterlicherseits besassen nie ein eigenes Auto. Ja, meine Mutter ging bereits zur Schule, als überhaupt eine Fahrstrasse zu ihrem Elternhaus gebaut wurde. Einen VW Käfer zu besitzen war ein Traum meiner Grossmutter. Als sie sich ein Auto hätte leisten können, war mein Grossvater verstorben und meine Grossmutter fühlte sich zu alt, noch Autofahren zu lernen.

Zum Elternhaus meiner Mutter in Oberhusen bei Sigriswil führte bis 1960 keine Fahrstrasse. Ein Auto besassen meine Grosseltern auch danach nie.

Heute ist es anders. Viele Schweizerinnen und Schweizer können sich ein Auto leisten. Und die Benutzung des öffentlichen Verkehrs sowieso. Ein Generalabonnement 2. Klasse kostet für Erwachsene 3860 Franken im Jahr. Behinderte, Jugendliche, unter 25-jährige und Senioren bezahlen deutlich weniger. Einzelbillets oder Streckenabos kosten noch weniger.

Trotzdem nutzen viele Menschen lieber das Auto. Gerade auch im ländlichen Raum. Das wiederum verstehen rot-grüne Kreise gar nicht. Sie wollen das Autofahren möglichst verteuern oder am liebsten verbieten. Oder sie reden von einer "ÖV-Offensive", mit dem sie noch mehr Züge und Busse fahren lassen wolle. Ziel davon: Den motorisierten Individualverkehr möglichst zu reduzieren.

Das kann nicht funktionieren. Solche Ansichten zeugen von fehlendem ökonomischen Sachverstand. Ich schloss mein Studium in einem der Nebenfächer in Volkswirtschaftslehre ab. Wenn ich ab und zu gewisse Äusserungen im Grossen Rat höre, dann denke ich jeweils, dass zumindest ein Einführungskurs in die Volkswirtschaftslehre für sämtliche Grossrätinnen und Grossräte obligatorisch sein sollte.

Individualverkehr und öffentlicher Verkehr sind sogenannte "Substitute". Sprich: Man kann das Auto nur zum Teil mit dem öffentlichen Verkehr ersetzen. Und umgekehrt. Es sind eben keine perfekten Substitute. Mit perfekten Substituten meint man Güter, die genau gleich funktionieren und die gleichen Vor- und Nachteile bei der Benutzung haben. Ein bekanntes Beispiel für ein perfektes Substitut: Es spielt keine grosse Rolle, ob ein Bleistift rot oder grün gefärbt ist. So lange eine Graphitmine drin steckt, kann ich den Bleistift genau gleich verwenden.

Bahn, Bus oder Auto können sich gegenseitig teilweise auch ersetzen. Aber eben nie vollständig. Die Bahn etwa hat grosse Vorteile bei Transporten auf langen Strecken. Hochgeschwindigkeitszüge etwa sind schneller unterwegs und man fährt erst noch entspannter als mit dem Auto. Ich fahre selber deshalb auch lieber mit dem TGV nach Paris als mit dem Auto. In Paris hat man viele Möglichkeiten, sich mit der Metro oder Bussen zu bewegen. Hier hat der ÖV Vorteile.

Früher bin ich oft in die Normandie auf einen Bauernhof gefahren. Der Weg führt dabei auch über Paris. Hier sieht es dann schon anders aus. Zwar gilt auch hier, dass die Fahrt mit dem TGV nach Paris entspannender und schneller ist. Aber dann beginnen die Nachteile. In Paris muss ich von einem Bahnhof zum anderen mit der Metro verschieben. Und wenn ich dann in der Normandie angekommen bin, dann hört der Spass auf. Es gibt dort fast keinen öffentlichen Verkehr. Man ist definitiv aufs Auto angewiesen.

Nun ist der Öffentliche Verkehr in der Schweiz definitiv besser ausgebaut als in den meisten anderen Ländern. Doch auch hier gibt es Grenzen. Im Zulgtal etwa fährt der Bus im Stundentakt. Und das ist nur der eine Nachteil. Noch gravierender ist, dass viele Häuser recht weit weg von der nächsten Busstation liegen. Viele Menschen müssen 10, 15 oder gar 20 Minuten zu Fuss gehen, bis sie schon nur bei der Busstation sind. Kein Wunder, dass da das Auto vorgezogen wird. Namentlich auch fürs Einkaufen oder für andere Transporte. Auch ein Ausbau des Busnetzes und des Fahrplanes würde hier nur wenig Abhilfe bringen, dafür aber immer mehr kosten.

In der Stadt Bern ist das hingegen ganz anders. Wer etwa von der Länggasse zum Bahnhof will, der hat alle vier Minuten eine Busverbindung. Und das Tram- und Busnetz ist sehr dicht. Dies auch dank sehr hohen Subventionen der öffentlichen Hand. Die Wege vom ÖV zu den Wohnungen sind kurz. Parkplätze hingegen sind Mangelware. Dies ist zum Teil auch politisch gewollt. So gesehen ist in der Stadt Bern der Öffentliche Verkehr im Vorteil.

An diesem Beispiel kann man schön sehen, dass der Öffentliche Verkehr im innerstädtischen Verkehr eher Vorteile hat, während auf dem Land das Auto praktischer und sinnvoller ist. So weit so gut. Was ich nun aber politisch nicht verstehen kann, warum die eher linken Stadtbewohner den eher bürgerlichen Landbewohnern unbedingt ihren Lebensstil und auch ihr Verkehrsmittel aufzwingen wollen? Genau das tun sie aber. Ein Beispiel ist die unfaire Erhöhung der Motorfahrzeugsteuer, über die wir bald abstimmen. Ich rufe deshalb alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dazu auf, ökonomisch zu denken. Und keine unsinnige Verkehrspolitik zu unterstützen.

Autor: Samuel Krähenbühl