3.6.2018

Vor 10 Jahren zwangen Milchbauern Molkereien in die Knie

Stadt und Land

Demonstration der Basis-Organisation BIG-M bei der Molkerei Emmi in Emmen LU.

Es war heiss im Frühsommer 2008. Gegen Monatsende zogen zunehmend dunkle Gewitterwolken übers Land. Nicht nur punkto Wetter lagen Gewitter in der Luft. Auch im Milchmarkt braute sich etwas zusammen.

Der Ausstieg aus der Milchkontingentierung war zwar erst per 1.Mai 2009 geplant. Bereits seit 2006 wurde das System durch die vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) grosszügig bewilligten Mehrmengen ausgehebelt.

Ausstieg aus der Milchkontingentierung

Viele der Probleme hatten ihren Ursprung in der Verordnung über den Ausstieg aus der Milchkontingentierung. Namentlich seit der Umsetzung des Käsefreihandels mit der EU am 1. Juni 2007 gewährte das BLW auch grosszügige Mehrmengen für die sogenannte «Marktabwehr» im Inland.

Die grossen Produzentenorganisationen (PO) auf der anderen Seite hatten unter der Führung der Schweizer Milchproduzenten (SMP) schon seit 2007 mit mehr oder weniger Enthusiasmus versucht, mit einer gemeinsamen Vermarktung über einen sogenannten Milchpool der Marktmacht der beiden grossen Detailhändler Migros und Coop sowie der vier grossen Milchverarbeiter Emmi, Cremo, Elsa und Hochdorf mit Marktanteilen von je um die 80 Prozent pro Stufe zu begegnen.

Doch das Unterfangen einer Bündelung der Milch war im April 2008 nach dem Ausscheren der beiden PO Zentralschweizer Milchproduzenten (ZMP) und Miba und namentlich deren Geschäftsführer Benedikt Felder (ZMP) und Jacques Gygax (Miba) gescheitert.

«Melken, melken, melken»

Mitten in der Debatte um die Mehrmengen und den Milchpool der SMP erlebte der globale Milchmarkt 2007 einen regelrechten Boom, der einen guten Absatz der vielen zusätzlich gemolkenen Milch scheinbar problemlos möglich machte.

Vertreter der Industrie forderten die Bauern auf, so viel zu melken, wie sie wollten. «Melken, melken, melken», das war die Botschaft von Damian Henzi, CEO der Hochdorf Holding AG, in seinem Referat an die versammelten Milchproduzenten im April 2008 an der Generalversammlung der PO Ostschweiz im Mettlen TG.

Die positive Marktentwicklung wirkte sich lange kaum auf den Schweizer Produzentenmilchpreis aus. Zwar handelte die Verhandlungsdelegation der SMP mit der Milchindustrie schon Ende 2007 eine erste Erhöhung von 6 Rappen aus, womit der Milchpreis im Schnitt auf 74Rappen stieg.

Dennoch zeigte sich schon bald im neuen Jahr, dass damit die Steigerung im Ausland in der Schweiz nicht nachvollzogen war. Am klarsten sichtbar wurde das, als die EU Ausgleichszölle auf Schweizer Milchpulver erhob, weil dieses billiger war.

Das «Schoggigesetz» wurde also quasi umgedreht. Gleichzeitig spitzte sich auch das Verhältnis zwischen SMP und der Vereinigung Schweizer Milchindustrie (VMI) zu. Die VMI wollte schon im Frühling die gemeinsamen Sitzungen der früheren Branchenorganisation Milch (BOM) immer wieder verschieben.

Am 24. Mai scheiterten die Verhandlungen zwischen SMP und den Milchverarbeitern Emmi, Cremo, Elsa und Hochdorf. Diese verweigerten eine Milchpreiserhöhung ab 1. Juni. Laut einer späteren Aussage des damaligen SMP-Direktors Albert Rösti hatten die SMP eine Erhöhung von 7 Rappen gefordert.

Milchstreik ausgerufen

In Deutschland und anderen europäischen Ländern war die Situation ähnlich. Auch hier waren zwar die Preise für die Spotmilch massiv gestiegen. Die Produzentenmilchpreise hinkten jedoch der boomenden Marktentwicklung hinterher. Das erhitzte die Gemüter der Milchbauern.

Bereits am 24. Mai hatte der «Schweizer Bauer» als erste Zeitung angekündigt, dass wohl ein europaweiter Milchstreik vor der Türe stehe. Die deutschen Bauern hatten am 26. Mai mit dem Milchstreik begonnen. Die Basisorganisation BIG-M rief am Dienstag, 27. Mai, an Demonstrationen vor Emmi in Emmen LU und Hochdorf in Sulgen TG zum Milchlieferboykott auf.

An beiden Veranstaltungen zusammen demonstrierten rund 160 Milchbauern, vorwiegend aus dem Zürcher Säuliamt, dem Raum Zug, Aargau sowie Ostschweiz. Sie hatten Tafeln für «faire Milch» sowie Milchkannen bei sich, die sie symbolisch ausleerten. Sie machten klar, dass sie ab sofort ihre Milch auch real ausleeren würden, wenn die Industrie ihren Forderungen nicht nachkommen sollte. Und die Forderung lautete: Der Milchpreis muss sofort um 10 Rappen erhöht werden.

«Wir sind nicht bereit, auf diese Forderung einzugehen», sagte Emmi-Sprecher Stephan Wehrle vor den Demonstrierenden in Emmen. Päng! Die Milchindustrie hatte wieder einmal den Tarif bekannt gegeben. Der Eindruck des Schreibenden nach der Demo: «Kommt das gut?»

schweizerbauer.ch

Doch was nun? Klar war, dass die Streikführer aus den Reihen von BIG-M selbst ihre Milch nicht abliefern würden. Befolgte überhaupt irgendjemand ausser dem harten Kern der  BIG-M-Anführer den Streikaufruf? Die Industrie zumindest liess schon bald verlauten, dass sie keinen Rückgang der Milchanlieferungen feststellen könne. Auch die Redaktion des «Schweizer Bauer» beschäftigte die Frage: «Wie merken wir, ob jemand streikt?»

Anlässlich eines Mittagessens im Gasthof Brunnen in Fraubrunnen hatten Chefredaktor Rudolf Haudenschild sowie der Schreibende die zündende Idee: Eine Streikliste auf schweizerbauer.ch musste her. Prominente Streiker wie die Familie des Holsteinzüchters Josef Rüttimann, Hohenrain, übernahmen eine Vorbildfunktion. schweizerbauer.ch übernahm also früh die Rolle eines sozialen Mediums, als ab dem Abend des 28. Mai die Streikliste aufgeschaltet wurde.

Die Bauern konnten per E-Mail an die Redaktion ihre Beteiligung samt der Milchmenge in Kilo melden, die sie jetzt täglich nicht mehr ablieferten. Die Streikliste wurde nun laufend aktualisiert. Diese Liste mit den Namen von Bauern, die ihre Milch wegschütteten, wuchs immer schneller. Sie bescherte der Redaktion zwar auch schlaflose Nächte, weil die Einträge nicht automatisch möglich waren.

Aber sie verhalf dem Streik auch zum Durchbruch, weil die Molkereibosse und Detailhandelschefs Angst vor der ständig wachsenden Flut von Streikenden hatten. Auch die Zugriffe auf schweizerbauer.ch explodierten förmlich. Mit der Zeit schickten die Streikenden auch immer mehr Bilder ein, welche die kreative Verwendung der nun nicht mehr abgelieferten Milch zeigte. Neben der Direktvermarktung wurde nun buchstäblich auch in der Milch gebadet, wie auf den Bildern zu sehen war.

Einige badeten in der nicht abgelieferten Milch.

Mehrere Streikzentren

BIG-M richtete danach auch mehrere Streikzentren ein, in denen sich die Bauern jeden Abend trafen und sich gegenseitig bekräftigten. Innert weniger Tage wurde der Streik zum Flächenbrand. Am 1. Juni forderten die SMP Emmi, Cremo, Elsa und Hochdorf auf, bis am 2. Juni in eine Milchpreiserhöhung einzuwilligen.

Sonst behielten sich die SMP eine Solidarisierung mit den Streikenden vor. Der Streik weitete sich immer stärker aus. In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni einigten sich die SMP und die Verarbeiter auf eine Erhöhung von 6 Rappen. Das BIG-M-Copräsidium Karl Häcki, Martin Haab und Werner Locher – alle total übermüdet und mit den Nerven am Ende – willigten nach Mitternacht am frühen Morgen des 3.Juni in den  Kompromiss ein.

Einziger Streik mit Erfolg

Die Schweiz blieb das einzige Land in Europa, wo der Milchpreis aufgrund des Streiks stieg. Und Mitte Jahr schwamm die Schweiz immer mehr in der Milch. Schweizer Milch musste im Ausland verpulvert werden. Und nach wie vor waren keine Strukturen für die Zeit nach der Aufhebung der Milchkontingentierung geschaffen worden.

Die Probleme im Milchmarkt sind auch zehn  Jahre nach dem Ende des Milchstreiks nicht gelöst. Namentlich die meisten Industriemilchbauern haben nach wie vor Produzentenmilchpreise, die nicht oder kaum kostendeckend sind.

Trotzdem ist eine Tatsache nicht abzustreiten: Der Schweizer Milchstreik von 2008 war der einzige Milchstreik weltweit, der je zumindest kurzfristig zu einer substanziellen Erhöhung des Milchpreises geführt hat.

Autor: Samuel Krähenbühl